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Sie sah die Bilder wieder, wie die Männer in weißen Kitteln sie festhielten, um sie zu „beruhigen“. Einer fasste sie grob am Oberarm, sie hielt die Arme verkrampft über den Kopf und öffnete den Mund in einem stummen Kreischen. Hände griffen nach ihr, zerrten an ihr, versuchten sie zu zwingen, bedrängten sie und taten ihr weh. Sie hatte längst aufgegeben, sich zu wehren und versuchte nur um so mehr, sich in sich selbst zu vergraben, machte sich so klein wie möglich und das mit einer Kraft, dass es schon wieder weh tat. Alles an ihr zog sich zusammen und wie in einem sich verstärkenden Krampf zitterte sie immer mehr. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Was hast du?“ Sie öffnete mit Mühe die Augen und erblickte den Balkon durch die geschlossene Glastür direkt vor ihr. Sie drehte sich um und sah ihm ins Gesicht: keine großen Männer in weißen Kitteln, nur er, doch für sie waren sie noch immer da. Sie waren nie weg gewesen. Er ließ sich schräg hinter ihr in die Hocke sinken und legte ihr sanft die Hände auf die Oberarme. „Du musst dich entspannen..“ Sie ließ die Schultern ruckartig fallen, keinesfalls entspannt. Das war sie nicht gewesen, seit sie sich erinnern konnte. Aber an was konnte sie sich schon erinnern? Ihr Gedächtnis spielte üble Streiche mit ihr, die nicht mehr als Scherze aufgenommen werden konnten. Es war ihr böse gesinnt. Mit einem abgehackten Schluchzer vergrub sie das Gesicht wieder in den Beugen ihrer Arme, drückte die Augen mit Gewalt gegen ihre Knie. Es tat weh. Die weiß gekleideten Männer rissen ihre Arme auseinander, nahmen ihr den Schutz vom Kopf. Sie drückte die Arme mit aller Gewalt gegen den Kopf, wie um den ihr damals genommenen Schutz wieder gut zu machen, doch es half alles nichts: Sie fühlte sich nie wieder geborgen. Sie konnte sich nie wieder selbst schützen. Er strich ihr mit sanfter Kraft über den Rücken, wodurch sie leicht vor und zurück gedrückt wurde. Sie wollte schreien: Geht weg, lasst mich in Ruhe! Verschwindet! Aber man hielt ihr den Mund zu. Man zwängte sie in eine Jacke, deren Ärmel keinen Ausgang für die Hände hatten und die Arme an den Körper zwängten, man öffnete ihren Kiefer mit schierer Gewalt und zwang sie mit allen schmerzenden Tricks, ihr Gift in Form weißer Tabletten zu schlucken. Danach vergingen nur noch Momente, in denen sie hoffnungslos versuchte, sich zu dagegen wehren, bis sie umkippte. Aber es wurde nicht schwarz um sie herum wie in jedem guten Film: Es wurde nur noch schrecklicher. Die Männer verwandelten sich in schreckliche Kreaturen, Monster, Ungeheuer, schrecklicher als man es auszusprechen vermag. Schreckliche, schrille Laute quälten ihre Ohren, die sie nicht mehr zuhalten konnte. Sie wollte schreien, doch das Gift hatte sie der Fähigkeit dazu beraubt. Sie wollte sich zusammen rollen in ihren schrecklichen Schmerzen, doch die Kreaturen hielten sie am Boden fest. Ihre um ihre eigene Taille geschlungenen Arme zitterten, die Finger gruben sich durch den Stoff hindurch in ihr Fleisch. Ihr Mund öffnete sich wieder zu einem stummen Kreischen, doch die Kehle gab keinen Laut frei. Auch sie war zu den Feinden übergelaufen. Sie wollte sie sich heraus reißen.. Zweifellos hätte sie es auch getan, doch sie konnte nicht. Schiere Verzweiflung ließ sich ihren Bauch zusammenziehen, doch sie selbst konnte es nicht, sie wurde gezwungen, gerade zu liegen und so tat es noch mehr weh. Sie warf ihren Kopf ruckartig hin und her und im nächsten Moment wurde auch er von zwei schrecklich starken Klauen fest gehalten, fast zermahlen. Sie legte den Kopf in den Nacken, den Mund auf groteske Weise weiter aufgerissen als es möglich zu sein schien und stieß einen stummen, schrillen Schrei aus. Die heißen Tränen flossen ihr wie Blut über die totenblassen Wangen. Er streichelte sie weiter, wusste nicht, was sonst zu tun. Ihr ganzer Körper bebte, zog sich zusammen, ließ ruckartig los, zog sich zusammen.. Schmerzen, schreckliche Bilder, böse albtraumhafte Gestalten um sie herum.. Verzweiflung.
Es war vorbei, endlich, doch für wie lange? Sie hob den Blick über den Balkon hinweg und sah die Silhouetten einer großen Stadt und dahinter gewaltige dunkle Riesen, Berge vor dem grauen Sonnenuntergang. Das Bild wurde verwischt von den hellen Vorhängen und die Tränen taten den Rest, dass sich ein Bild der Hölle zeigte. Überall dort draußen in den verschwommenen Formen der Welt bargen die endlosen Gassen und Winkel perfekte Verstecke, in denen sie auf sie lauerten. Sie blinzelte. Er zog den Vorhang beiseite. Grauer Beton breitete sich vor ihr aus, beschienen vom hellroten Licht der untergehenden Sonne, die Illusion verblasste. „Willst du Fernsehen?“ Sie reagierte nicht. „Kekse?“ Sie schloss die Augen. Sie hörte, wie sich seine Schritte in Richtung Küche entfernten und dann, wie er mit Töpfen zu klappern und Plastik zu knistern begann. Sie rutschte auf ihrem Platz hin und her und lehnte sich schließlich gegen die Balkontür. Ihr Blick fiel seitlich auf das Spektakel einer Altstadt in der Abenddämmerung. Er kam zurück und öffnete das Fenster an der anderen Wand. Der Wind fasste den Vorhang und ließ ihn über sie streichen. Sie verkrampfte sich. Er schloss das Fenster wieder. „Hier.“ Er kam zu ihr und hielt ihr einen Keks hin. Sie nahm ihn. „Ich habe sie vorhin erst gebacken, sie sind noch frisch.“ In der ganzen Wohnung lag der Geruch nach dem frischen Gebäck. Sie ließ die Arme über die Knie fallen, lehnte auch den Kopf gegen das Glas und schloss langsam die Augen. Er sammelte Decken und Kissen aus der Wohnung und mummte sie ein, auf einen ruhigen Schlaf.
Ein Schlaf, der ewig währen würde. Endlich.
Sonntag, 10. Dezember 2006
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